Leseprobe aus Kapitel VI: Endgültiger Abschied von Christentum und Kirche

Endgültiger Abschied von Christentum und Kirche

2. Die erschüt­ternde Bilanz von 2000 Jahren Christentum

Ein beson­de­res Kapi­tel, gerade für uns Deut­sche, stellt die blu­tige Ver­fol­gung der Juden dar. Die Opfer in den zwei Jahr­tau­sen­den seit Beginn des Chris­ten­tums addie­ren sich zu einer zwei­stel­li­gen Mil­lio­nen­zahl. Sie wurden erschla­gen, ertränkt, ver­brannt, erschos­sen, ver­gast oder sonst wie zu Tode gebracht, fast immer aus christ­lich-reli­giö­sen Moti­ven; die Natio­nal­so­zia­lis­ten gaben ras­si­sche Gründe an. Beson­ders über die Mas­sen­ver­nich­tung unter Hitler ist in hun­der­ten Büchern und tau­sen­den Auf­sät­zen aus­führ­lichst und kom­pe­tent berich­tet und über Ursa­chen nach­ge­dacht worden. Es erscheint daher ent­behr­lich, dass auch ich mich hier dazu äußere. Aber ich möchte einen wesent­li­chen Aspekt beleuch­ten, der so in Schule und poli­ti­scher Auf­klä­rung zumin­dest in meiner Zeit nie zur Spra­che kam und bis heute in der öffent­li­chen Dis­kus­sion tabui­siert wird.

In den weni­gen Geschichts­stun­den in meiner Schul­zeit zu diesem Thema, haupt­säch­lich jedoch bei der Zei­tungs­lek­türe über Pro­zesse gegen KZ-Kom­man­dan­ten, fragte ich mich immer wieder, wie es mög­lich war, in der rela­ti­ven Kürze der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herr­schaft ein sol­ches Ver­nich­tungs­pro­gramm umzu­set­zen. Es muss – so meine damals unter­schwel­lige Ver­mu­tung – schon eine breite anti­se­mi­ti­sche, min­des­tens jedoch gleich­gül­tige Hal­tung in der Bevöl­ke­rung vor­han­den gewe­sen sein, denn ohne diese wäre die ras­sisch-ideo­lo­gi­sche Begrün­dung dieser Ver­nich­tungs­maß­nah­men nicht von so vielen Mit­hel­fern und Mit­wis­sern so ein­fach hin­ge­nom­men worden.

Der Hin­weis auf die – tat­säch­lich ja begrün­dete – Angst der Men­schen vor eige­ner Ver­fol­gung, wenn Wider­spruch offen geäu­ßert oder gar Wider­stand geleis­tet worden wäre, erklärt dieses Phä­no­men in keiner Weise. Selbst hohe Kir­chen­ver­tre­ter, denen Amt und gesell­schaft­li­che Stel­lung genü­gend Schutz vor unmit­tel­ba­rer Bedro­hung gebo­ten hätten, ver­ur­teil­ten diese Ver­fol­gun­gen, von rühm­li­chen Aus­nah­men abge­se­hen, nicht. Ich kann mir das nur mit einer schon latent vor­han­de­nen, und zwar euro­pa­weit ver­brei­te­ten, anti­jü­di­schen Grund­hal­tung weiter Bevöl­ke­rungs­kreise und ‑schich­ten erklä­ren. Und blickt man weiter zurück in die Geschichte, dann stellt man schnell fest, dass es tat­säch­lich schon seit Jahr­hun­der­ten furcht­bare Pogrome und Ver­nich­tungs­ak­tio­nen gegen die Juden gege­ben hat. Der Anti­se­mi­tis­mus ist also keine Erfin­dung der Natio­nal­so­zia­lis­ten, wie uns durch Schule und Nach­kriegs­auf­klä­rung sug­ge­riert werden sollte, son­dern hat viel tiefer und viel weiter zurück­lie­gende Ursa­chen. Die Wur­zeln dieses Anti­se­mi­tis­mus grün­den – und diese Erkennt­nis war auch für mich zunächst unglaub­lich – prak­tisch aus­schließ­lich in der christ­li­chen Lehre und der sich auf sie beru­fen­den Kirche!

Diese für viele gut­gläu­bige Chris­ten sicher­lich schwer zu ertra­gende Behaup­tung wird inzwi­schen von vielen Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­lern, ja selbst von evan­ge­li­schen Theo­lo­gen, zum Bei­spiel von Gerd Lüde­mann, und katho­li­schen, zum Bei­spiel Uta Ranke-Hei­ne­mann, aus­führ­lich begrün­det und ver­tre­ten. Ranke-Hei­ne­mann for­mu­liert: »Die 2000-jäh­rige Geschichte des Chris­ten­tums ist eine Geschichte 2000-jäh­ri­ger Juden­ver­fol­gung.« Der aus der Kirche aus­ge­tre­tene Theo­loge Joa­chim Kahl führt in seinem Welt­best­sel­ler »Das Elend des Chris­ten­tums« (S. 43f) unter ande­rem aus:

»[Die Evan­ge­lien bemü­hen sich,] die Schuld am Tode Jesu von den römi­schen Behör­den (Pila­tus) ganz auf die Juden abzu­wäl­zen. Schon bei Markus, dem ältes­ten Evan­ge­lium, sträubt Pila­tus sich, Jesus zu ver­ur­tei­len (15, 10: ›Denn er erkannte, daß ihn die Hohen­pries­ter aus Neid über­lie­fert hatten‹). Noch ein­dring­li­cher läßt Lukas den Pila­tus die Unschuld Jesu beteu­ern (23, 4: ›Pila­tus aber sagte zu den Hohen­pries­tern und der Volks­menge: Ich finde keine Schuld an diesem Men­schen‹, vgl. 23, Verse 14, 20, 22, 25). Mat­thäus voll­ends fügte die bekannte Szene ein, wo Pila­tus sich die Hände wäscht und beteu­ert: ›Ich bin unschul­dig am Blute dieses Gerech­ten; sehet ihr zu‹ (27, 24). Dann folgt jener berüch­tigte Vers, der sich in den fol­gen­den Jahr­hun­der­ten schau­er­lich erfül­len sollte: ›Und alles Volk ant­wor­tete und sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!‹ Diese Selbst­ver­flu­chung, die Mat­thäus infam erfand – wie die his­to­risch-kri­ti­sche For­schung längst nach­ge­wie­sen hat –, halst dem jüdi­schen Volk als Ganzem die Schuld am Tode des Got­tes­soh­nes auf.« 50

Wie hätte sich die christ­li­che Lehre ent­wi­ckelt, wenn Judas Jesus nicht ver­ra­ten hätte, wenn den Juden nicht diese Rolle zuge­dacht worden wäre? Wäre Jesus ver­haf­tet und gekreu­zigt worden, wäre er wie beschrie­ben auf­er­stan­den? Wäre Jesus dann zum gött­li­chen Erlö­ser der Men­schen gewor­den? So wie berich­tet, lief es eigent­lich ent­spre­chend Gottes Heils­plan ab: Verrat, Ver­ur­tei­lung, Hin­rich­tung, Jesus als Opfer. Für der Men­schen Schuld sei Jesus gestor­ben, schuld aber an seinem Tod seien die Juden, heißt es. Oder stellt sich das alles ganz anders dar? Ist der bibli­sche Text später »ange­passt« worden, um nach­träg­lich den Tod von Jesus als Opfer dar­zu­stel­len? Welche höchst frag­wür­dige Geschichte wird uns da prä­sen­tiert! Kahl fährt fort:

»Der anti­se­mi­tisch zuge­spitzte Vor­wurf des Chris­tus­mor­des findet sich auch bei Paulus, der im ersten Thes­sa­lo­ni­cher­brief schreibt: ›Sie haben den Herrn Jesus und die Pro­phe­ten getö­tet und haben uns ver­folgt und gefal­len Gott nicht und sind gegen alle Men­schen feind­se­lig. Sie hin­dern uns, den Heiden zu ihrem Heil zu pre­di­gen, damit sie das Maß ihrer Sünden jeder­zeit voll machen. Doch das Zor­nes­ge­richt ist end­gül­tig über sie gekom­men‹ (2, 15f). … Den unüber­biet­ba­ren Gipfel neu­tes­ta­ment­li­chen Anti­se­mi­tis­mus stellt das Johan­nes­evan­ge­lium dar, an dem sich beson­ders deut­lich able­sen läßt, daß jede christ­li­che Theo­lo­gie not­wen­dig ihren Juden, die mythi­sche Pro­jek­tion des abso­lu­ten Außen­fein­des, braucht. Klarer als alle ande­ren Schrif­ten durch­zieht das vierte Evan­ge­lium ein stren­ger Dua­lis­mus, der mit den Begrif­fen: Licht und Fins­ter­nis, Wahr­heit und Lüge, oben und unten, himm­lisch und irdisch, Gott und Teufel, Frei­heit und Knecht­schaft, Leben und Tod ope­riert. Dem Licht gehört an, wer dem Offen­ba­rer glaubt, der da sagt: ›Ich bin der Weg und die Wahr­heit und das Leben; nie­mand kommt zum Vater außer durch mich‹ (Joh 14, 6). … Der ent­schei­dende Begriff, der den Ungläu­bi­gen bei­gelegt wird, ist der der ›Welt‹ – oder der der ›Juden‹. Beides wird durch­gän­gig aus­tausch­bar gebraucht.«

Des Wei­te­ren führt Kahl aus, dass Kir­chen­leh­rer und Kir­chen­vä­ter auf der Basis dieser und wei­te­rer Bibel­stel­len bereits in den ersten Jahr­hun­der­ten in ihren Schrif­ten die Juden als Mörder von Chris­tus, als Fäl­scher der Hei­li­gen Schrift, als geld­gie­rig und ver­bre­che­risch, ihre Syn­ago­gen als Satans­bur­gen (Offen­ba­rung des Johan­nes, Kap. 3, Vers 9!) brand­mark­ten. Unter Kaiser Kon­stan­tin (4. Jahr­hun­dert) und seinen Söhnen wurde der Über­tritt zum Juden­tum mit schwe­ren Stra­fen belegt und Misch­ehen zwi­schen Juden und Chris­ten wurden mit dem Tode bestraft. Unter Kaiser Theo­dosius II. (5. Jahrh.) wurden die Juden von allen öffent­li­chen Ämtern und Würden aus­ge­schlos­sen. Das IV. Late­r­an­kon­zil (1215) legte eine beson­dere Juden­tracht fest: Einen gelben Fleck im Ober­ge­wand und eine gehörnte Kappe. Kahl ver­weist darauf, dass unzäh­lige Mysterien‑, Pas­si­ons- und Fast­nachts­spiele, Trak­tate und Hei­li­gen­le­gen­den die Juden ver­höh­nen und ver­leum­den. Viele mit­tel­al­ter­li­che Bilder stel­len den Teufel mit einer gebo­ge­nen Nase (»Juden­nase«) dar. In vielen alten, gele­gent­lich noch heute zu hören­den Sprich­wör­tern und Rede­wen­dun­gen steht das biblisch bezo­gene »Jüdi­sche« als Syn­onym für das Böse und Nega­tive schlechthin.

Bemer­kens­wert ist, dass noch heute etwa 25 deut­sche Kir­chen die »Juden­sau« in Form von Stein­re­li­efs oder Skulp­tu­ren zeigen. Wiki­pe­dia schreibt dazu im Bei­trag »Juden­sau« Fol­gen­des: Die Tier­me­ta­pher »Juden­sau« bezeich­net ein im Hoch­mit­tel­al­ter ent­stan­de­nes häu­fi­ges Bild­mo­tiv der anti­ju­da­is­ti­schen christ­li­chen Kunst. Es sollte Juden ver­höh­nen, aus­gren­zen und demü­ti­gen, da das Schwein im Juden­tum als unrein gilt und mit einem reli­giö­sen Nah­rungs­tabu belegt ist. Diese Dar­stel­lun­gen sind noch heute zu betrach­ten, in vielen Fällen gut erhal­ten oder restauriert.

Diese weni­gen, hier nur ange­deu­te­ten Bei­spiele ließen sich durch viele wei­tere ver­meh­ren. Sie lassen unzwei­deu­tig erken­nen, dass durch die gesamte Kir­chen­ge­schichte, und zwar von Anfang an, die Juden als teuf­li­sche Ele­mente ange­se­hen und für alle Übel dieser Welt ver­ant­wort­lich gemacht wurden, bei­spiels­weise auch für die ver­hee­rende, Mil­lio­nen Men­schen dahin­raf­fende Pest­epi­de­mie von 1347–1349. Muss man sich da noch wun­dern, dass sich auf diese Weise eine tief­sit­zende Abnei­gung, ja gera­dezu Hass – so bar jeder ratio­na­len Begrün­dung auch immer – in allen Bevöl­ke­rungs­schich­ten breit­ge­macht und fest ver­an­kert hat? Wenn dann noch eine so sprach­ge­wal­tige Auto­ri­tät wie Martin Luther mit ihrem weit­rei­chen­den, bis in unsere Zeit wirk­sa­men Ein­fluss ihre wohl­über­leg­ten Hetz­ti­ra­den gegen die Juden los­lässt (siehe Kap. V, 3), dann kann ich nicht anders, als von einer sys­tem­im­ma­nen­ten, das heißt, dieser christ­li­chen Lehre als Wesens­be­stand­teil inne­woh­nen­den Unge­heu­er­lich­keit zu spre­chen. Nur in sel­te­nen Fällen ver­hin­der­ten Päpste und Bischöfe diese Ver­leum­dun­gen und Verfolgungen.

Wer an den Begrif­fen »Wesens­be­stand­teil« und »Unge­heu­er­lich­keit« Anstoß nimmt, über­lege sich, was alles aus dem Neuen Tes­ta­ment gestri­chen werden müsste, welche Kon­se­quen­zen das für die Lei­dens­ge­schichte von Jesus und die darin tra­gende Rolle der Juden hätte und wel­chen Ver­lauf die mora­li­sche und zivi­li­sa­to­ri­sche Ent­wick­lung in Europa genom­men hätte, wenn den Juden nicht diese infame Rolle zuge­wie­sen worden wäre. »Judas der Ver­rä­ter« und »die Juden als Got­tes­mör­der« sind begriff­li­che Eti­ket­ten, die ihre dif­fa­mie­rende Wir­kung bis heute entfalten.

Wer diese Zeilen nur mit abweh­ren­dem Kopf­schüt­teln lesen und nicht akzep­tie­ren mag, schlage wenigs­tens die Seiten 42–52 (in der erwähn­ten 3. Auf­lage: S. 46–54) in Joa­chim Kahl »Das Elend des Chris­ten­tums« oder bei Karl­heinz Desch­ner »Aber­mals krähte der Hahn« die Seiten 442–464 auf. Wer sich umfas­sen­der infor­mie­ren möchte, lese – wie oben schon erwähnt – »Das Unhei­lige in der hei­li­gen Schrift« des evan­ge­li­schen Theo­lo­gen Gerd Lüde­mann oder »Nein und Amen – Mein Abschied vom tra­di­tio­nel­len Chris­ten­tum« der katho­li­schen Theo­lo­gin Uta Ranke-Hei­ne­mann. 51

In seinem 2008 erschie­ne­nen Buch »Gesich­ter des Anti­se­mi­tis­mus« beschreibt der inter­na­tio­nal als Wis­sen­schaft­ler und Autor his­to­ri­scher Werke aus­ge­wie­sene Anti­se­mi­tis­mus­for­scher Walter Laqueur (*1921), welche Formen des Hasses den Juden schon in der Antike ent­ge­gen­schlu­gen. Neben übli­cher, in allen Kul­tu­ren anzu­tref­fen­der Frem­den­feind­lich­keit war es hier vor allem jene christ­lich-reli­giö­ser Begrün­dung. Laqueur stellt fest (S. 14): »Aus his­to­ri­scher Sicht bedeut­sam ist die Tat­sa­che, dass sich das von den christ­li­chen … Theo­lo­gen geschaf­fene Ste­reo­typ des Juden über Jahr­hun­derte hinweg hielt und bis heute wei­ter­wirkt«. Auch er ver­weist auf ein­schlä­gige anti­jü­di­sche Stel­len im Matthäus‑, Lukas- und Johan­nes-Evan­ge­lium (S. 60f). Als beson­ders feind­se­lig gegen­über den Juden erwähnt er die Kir­chen­män­ner Justin der Mär­ty­rer, Orig­e­nes, Bischof von Alex­an­dria, und Johan­nes Chry­sosto­mos, Erz­bi­schof von Kon­stan­ti­no­pel, sowie den bis heute hoch geschätz­ten Kir­chen­va­ter Aure­lius Augus­ti­nus (S. 62f). 52

Ein anti­christ­li­cher Pole­mik gewiss unver­däch­ti­ger Autor ist der bekannte und all­seits geach­tete Theo­loge Hans Küng (*1928). Er schreibt in seinem Buch: »Christ sein«:

»… so ver­schärfte sich die Lage der Juden ins­be­son­dere seit dem Hoch­mit­tel­al­ter unge­mein: Juden­schläch­te­reien in West­eu­ropa wäh­rend der ersten drei Kreuz­züge und Aus­rot­tung der Juden in Paläs­tina. Die Ver­nich­tung von 300 jüdi­schen Gemein­den im Deut­schen Reich 1348/49 und die Aus­wei­sung der Juden aus Eng­land (1290), Frank­reich (1394), Spa­nien (1492) und Por­tu­gal (1497). Später dann aber auch die greu­li­chen anti­jü­di­schen Hetz­re­den des alten Luther, Juden­ver­fol­gun­gen nach der Refor­ma­tion, Pogrome in Ost­eu­ropa … Alles unfaß­bar für den Ver­stand eines heu­ti­gen Chris­ten. … Nicht die Refor­ma­tion, son­dern der Huma­nis­mus (Reuch­lin, Sca­li­ger), dann der Pie­tis­mus (Zin­zen­dorf) und beson­ders die Tole­ranz der Auf­klä­rung (Men­schen­rechts­er­klä­rung in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten und in der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion) haben eine Ände­rung vor­be­rei­tet und teil­weise auch durch­ge­setzt.« 53

Die immer wieder auf­ge­stellte Behaup­tung von der mora­li­schen Bas­tion des Chris­ten­tums beruht auf abso­lu­ter Unkennt­nis oder dem Nicht­wahr­ha­ben-wollen der in weiten Stre­cken blut­rüns­ti­gen Geschichte dieser Reli­gion und der auf ihr errich­te­ten Kirche.

Um auch das ganz deut­lich zu sagen: Die für mich zur Tat­sa­che gewor­dene These von den christ­li­chen und kirch­li­chen Wur­zeln des Anti­se­mi­tis­mus rela­ti­viert die exor­bi­tan­ten Ver­bre­chen der Natio­nal­so­zia­lis­ten an den Juden nicht um einen Hauch. Sie macht mir aber den ver­gleichs­weise gerin­gen Grad an Wider­stand auch füh­ren­der gesell­schaft­li­cher und poli­ti­scher Kräfte im In- und Aus­land gegen diese staat­li­chen Mas­sen­morde ver­ständ­li­cher. Die ob ihres selbst­lo­sen Mutes und ihrer mensch­li­chen Soli­da­ri­tät mora­lisch nicht hoch genug ein­zu­schät­zen­den Akti­vi­tä­ten ein­zel­ner Helfer der Ver­folg­ten sowie die in klei­nen, auch christ­li­chen bezie­hungs­weise kirch­li­chen, Grup­pen orga­ni­sier­ten Wider­stands­kämp­fer, die sich gegen diese Mord­ma­schi­ne­rie auf­lehn­ten, konn­ten leider an der Bilanz nicht viel ändern, auch wenn jedes ein­zelne geret­tete Men­schen­le­ben uner­mess­lich schwer wiegt.

Bekannt ist das offen­bar gleich­gül­tige, manche His­to­ri­ker spre­chen sogar von einem still­schwei­gend zustim­men­den Schwei­gen von Papst Pius XII. (1876–1958) zu den Ver­bre­chen wäh­rend der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herr­schaft, für die Ausch­witz als Symbol steht. Welche Rolle spielte der 1933 zwi­schen dem Vati­kan und der Hit­ler­re­gie­rung geschlos­sene, noch heute (!) gül­tige Ver­trag, das so genannte Reichs­kon­kor­dat? Ob die darin der katho­li­schen Kirche groß­zü­gig ein­ge­räum­ten Zuge­ständ­nisse den Vati­kan ver­an­lass­ten, in quasi neu­tra­ler Hal­tung über die Gescheh­nisse im Zusam­men­hang mit der Ver­fol­gung der jüdi­schen Bevöl­ke­rung hinwegzusehen?

Eine doku­men­ten­rei­che Abhand­lung stellt das im Jahr 2013 erschie­nene Buch »Pius XII. und die Ver­nich­tung der Juden« dar. Das Buch widmet sich unter ande­rem der Frage, was der Papst von der sys­te­ma­ti­schen Ermor­dung der Juden wusste und warum er zu deren Ver­fol­gung so beharr­lich schwieg. Der bel­gi­sche Autor Dirk Ver­hof­stadt (*1955) kann bele­gen, dass der Papst weit­ge­hend über die Vor­komm­nisse infor­miert war. Der Papst schwieg, weil er im Hitler-Regime die ein­zige Macht sah, die sich dem Kom­mu­nis­mus ent­ge­gen­stem­men könnte. Aber er sah im Natio­nal­so­zia­lis­mus auch einen Ver­bün­de­ten gegen Auf­klä­rung und Libe­ra­lis­mus, die für ihn Feinde von Reli­gion und pries­ter­li­cher Vor­macht dar­stell­ten. Die von Seiten der Kirche gern zitierte Enzy­klika von 1937 »Mit bren­nen­der Sorge« ergehe sich in all­ge­mei­nen Aus­sa­gen gegen Ras­sis­mus, erwähne aber die Ver­fol­gung der Juden mit keinem Wort. Die katho­li­sche Kirche pro­tes­tierte nur, wenn sie ihre Inter­es­sen tan­giert sah. Auch Ver­hof­stadt gei­ßelt den Anti­se­mi­tis­mus als »Krebs­ge­schwür in der christ­lich-euro­päi­schen Geschichte«. 54

Fest steht, dass die katho­li­sche Kirche in erheb­li­chem Maße das Hitler-Regime und damit direkt und indi­rekt deren anti­se­mi­ti­sche Maß­nah­men gestützt hat. Dies hier im Ein­zel­nen zu begrün­den, würde den Rahmen meiner Aus­füh­run­gen spren­gen. Aber eine Stimme sei hier noch erwähnt, die sehr deut­lich zumin­dest das Ver­sa­gen der füh­ren­den Köpfe auch der katho­li­schen Kirche, näm­lich der Bischöfe, beklagt. Kein Gerin­ge­rer als Konrad Ade­nauer (1876–1967) schrieb am 23. Februar 1946 an Pastor Bern­hard Custodis:

Ich glaube, daß, wenn die Bischöfe alle mit­ein­an­der an einem bestimm­ten Tage öffent­lich von den Kan­zeln aus dage­gen Stel­lung genom­men hätten, sie vieles hätten ver­hü­ten können. Das ist nicht gesche­hen und dafür gibt es keine Ent­schul­di­gung. Wenn die Bischöfe dadurch ins Gefäng­nis oder in Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger gekom­men wären, so wäre das kein Schade, im Gegen­teil. Alles das ist nicht gesche­hen und darum schweigt man am besten. 55

Kaum bekannt ist, dass die evan­ge­li­schen Lan­des­bi­schöfe und Lan­des­kir­chen­prä­si­den­ten von Sach­sen, Hessen-Nassau, Meck­len­burg, Schles­wig-Hol­stein, Anhalt, Thü­rin­gen und Lübeck am 17.12.1941 sich mit fol­gen­der Erklä­rung ein­deu­tig hinter das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Pro­gramm der Juden­ver­fol­gung stellten:

»Die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche deut­sche Füh­rung hat mit zahl­rei­chen Doku­men­ten unwi­der­leg­lich bewie­sen, daß dieser Krieg in seinen welt­wei­ten Aus­ma­ßen von den Juden ange­zet­telt ist. Als Glie­der der deut­schen Volks­ge­mein­schaft stehen die unter­zeich­ne­ten deut­schen Evan­ge­li­schen Lan­des­kir­chen und Kir­chen­lei­ter in der Front dieses his­to­ri­schen Abwehr­kamp­fes, der unter ande­rem die Reichs­po­li­zei­ver­ord­nung über die Kenn­zeich­nung der Juden als der gebo­re­nen Welt- und Reichs­feinde not­wen­dig gemacht hat. Schon Dr. Martin Luther erhob nach bit­te­ren Erfah­run­gen die For­de­rung, schärfste Maß­nah­men gegen die Juden zu ergrei­fen und sie aus deut­schen Landen aus­zu­wei­sen. Von der Kreu­zi­gung Christi bis zum heu­ti­gen Tage haben die Juden das Chris­ten­tum bekämpft oder zur Errei­chung ihrer eigen­nüt­zi­gen Ziele miss­braucht oder ver­fälscht. Durch die christ­li­che Taufe wird an der ras­si­schen Eigen­art des Juden, seiner Volks­zu­ge­hö­rig­keit und seinem bio­lo­gi­schen Sein nichts geän­dert. Eine deut­sche evan­ge­li­sche Kirche hat das reli­giöse Leben deut­scher Volks­ge­nos­sen zu pfle­gen und zu för­dern. Ras­se­jü­di­sche Chris­ten haben in ihr keinen Raum und kein Recht. Die unter­zeich­ne­ten deut­schen Evan­ge­li­schen Kir­chen und Kir­chen­lei­ter haben des­halb jeg­li­che Gemein­schaft mit Juden­chris­ten auf­ge­ho­ben. Sie sind ent­schlos­sen, kei­ner­lei Ein­flüsse jüdi­schen Geis­tes auf das deut­sche reli­giöse und kirch­li­che Leben zu dulden.« 56

Die Ver­beu­gung dieser Kir­chen­obe­ren vor den dama­li­gen Macht­ha­bern folgt einer klaren Wei­sung der Bibel. Im Brief des Paulus an die Römer, Kapi­tel 13, Vers 1 und 2, for­dert der erste Theo­loge der Christenheit:

»Jeder leiste den Trä­gern der staat­li­chen Gewalt den schul­di­gen Gehor­sam. Denn es gibt keine staat­li­che Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott ein­ge­setzt. Wer sich daher der staat­li­chen Gewalt wider­setzt, stellt sich gegen die Ord­nung Gottes, und wer sich ihm ent­ge­gen­stellt, wird dem Gericht verfallen.«

Von einem offi­zi­el­len Bedau­ern oder gar einer Rück­nahme dieses unse­li­gen Papiers der Bischöfe habe ich nie gehört oder gele­sen. Wo blieb der Auf­schrei und der Pro­test der Kir­chen, als in der Reichs­po­grom-Nacht von 1938 die Syn­ago­gen brann­ten? Ein­zelne mutige Pfar­rer pro­tes­tier­ten, die Kir­chen­lei­tun­gen schwie­gen! Der evan­ge­li­sche Lan­des­bi­schof von Thü­rin­gen, Martin Sasse, schrieb 1938 im Vor­wort zu seiner Schrift »Martin Luther über die Juden – Weg mit ihnen!« sogar zustimmend:

»Am 10. Novem­ber 1938, an Luthers Geburts­tag, bren­nen in Deutsch­land die Syn­ago­gen. Vom deut­schen Volk wird zur Sühne für die Ermor­dung des Gesandt­schafts­ra­tes vom Rath durch Juden­hand die Macht der Juden auf wirt­schaft­li­chem Gebiet im neuen Deutsch­land end­gül­tig gebro­chen und damit der gott­ge­seg­nete Kampf des Füh­rers zur völ­li­gen Befrei­ung unse­res Volkes gekrönt. … In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deut­schen Pro­phet im 16. Jahr­hun­dert aus Unkennt­nis einst als Freund der Juden begann, der, getrie­ben von seinem Gewis­sen, getrie­ben von den Erfah­run­gen und der Wirk­lich­keit, der größte Anti­se­mit seiner Zeit gewor­den ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.« 57

Gewiss wäre es falsch und unge­recht, zu ver­all­ge­mei­nern und evan­ge­li­sche Chris­ten ins­ge­samt zu ver­ur­tei­len. Aber immer­hin han­delte es sich bei den Autoren der beiden Doku­mente um füh­rende Reprä­sen­tan­ten einer Insti­tu­tion, die von sich behaup­tet, Inter­pre­tin und Hüte­rin gött­lich gestif­te­ter Moral zu sein. Mit wel­chem Recht wirft man dem ein­fa­chen Bürger vor, sei­ner­zeit nicht Wider­stand geleis­tet zu haben, wenn gut infor­mierte, maß­geb­li­che und mei­nungs­bil­dende Köpfe die Ver­fol­gung der Juden ideo­lo­gisch rechtfertigten!

Es gab in der Tat Pro­test und Wider­stand. Martin Niem­öl­ler (1892–1984) u. a. grün­de­ten den Pfar­rer­not­bund, der sich dage­gen wehrte, »nicht­ari­sche« Chris­ten aus der evan­ge­li­schen Kirche aus­zu­schlie­ßen. Ihm gehör­ten tau­sende evan­ge­li­sche Pfar­rer an, sie halfen vielen ver­folg­ten Juden in ver­schie­dens­ter Weise. Aus dem Pfar­rer­not­bund ging die »Beken­nende Kirche« hervor. Sie stellte zwar nur eine Min­der­heit der deut­schen Pro­tes­tan­ten dar, wandte sich aber ent­schie­den gegen die regime­treue Hal­tung großer Teile der offi­zi­el­len evan­ge­li­schen Kirche. Ihre Wir­kung zu Guns­ten der Juden blieb jedoch begrenzt. Zum einen, weil viele ihrer Mit­glie­der ver­haf­tet wurden, zum andern, weil erheb­li­che Teile dieser Bewe­gung zum Völ­ker­mord an den Juden – aus ver­ständ­li­cher Angst – schwiegen.

Wie dif­fe­ren­ziert sich die Situa­tion der Kir­chen im Natio­nal­so­zia­lis­mus dar­stellt, ver­sucht ein unter dem Pseud­onym Epikur63 schrei­ben­der Autor anhand von Doku­men­ten und Zita­ten auf­zu­zei­gen. Unter dem Titel »Die Kirche und der Natio­nal­so­zia­lis­mus« stellt er jeweils zehn Belege für die Zusam­men­ar­beit und zehn Belege für prak­ti­zier­ten Wider­stand zusam­men. Eine wei­tere Zusam­men­stel­lung mit Ori­gi­nal­zi­ta­ten zum Ver­hal­ten wesent­li­cher Reprä­sen­tan­ten der beiden deut­schen Kir­chen in der Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus hat Wolf­gang Klos­ter­hal­fen (*1945), Autor der »Reim­bi­bel«, über das Inter­net zugäng­lich gemacht. Wer nach Lek­türe dieser Texte immer noch der Mei­nung ist, dass die Kir­chen ins­ge­samt ein Boll­werk des Wider­stands gegen die Bar­ba­rei des Natio­nal­so­zia­lis­mus gewe­sen seien, der will es offen­bar nicht wahr­ha­ben, dass eine Viel­zahl hoch­ran­gi­ger Ver­tre­ter der Kir­chen das Regime Adolf Hit­lers unter­stützt hat. 58 Schließ­lich war Hitler kein Athe­ist, er war Katho­lik und hat sich mehr­fach zum Chris­ten­tum bekannt. Exkom­mu­ni­ziert wurde er übri­gens auch nie.

Papst Johan­nes XXIII. (1881–1963) zeigt sich in einem zwar sehr all­ge­mein gehal­te­nen Gebet, das er 1963 kurz vor seinem Tod ver­fasste, offen­bar aber ein­sich­tig und reu­mü­tig, wenn auch für die Opfer zu spät:

»Wir erken­nen heute, daß viele Jahr­hun­derte der Blind­heit unsere Augen ver­hüllt haben, so daß wir die Schön­heit Deines aus­er­wähl­ten Volkes nicht mehr sehen und in seinem Gesicht nicht mehr die Züge unse­res erst­ge­bo­re­nen Bru­ders wie­der­erken­nen. Wir erken­nen, daß ein Kains­mal auf unse­rer Stirn steht. Im Laufe der Jahr­hun­derte hat unser Bruder Abel in dem Blute gele­gen, das wir ver­gos­sen, und er hat Tränen geweint, die wir ver­ur­sacht haben, weil wir Deine Liebe ver­ga­ßen. Vergib uns den Fluch, den wir zu unrecht an den Namen der Juden hef­te­ten. Vergib uns, daß wir Dich in ihrem Flei­sche zum zwei­ten­mal ans Kreuz schlu­gen. Denn wir wußten nicht, was wir taten.« 59

Bleibt abschlie­ßend die Frage, ob es noch heute offe­nen Anti­se­mi­tis­mus bezie­hungs­weise Anti­ju­da­is­mus gibt. Die Frage muss leider bejaht werden. Der latent immer noch vor­han­dene Anti­se­mi­tis­mus in Teilen der Bevöl­ke­rung wird inzwi­schen unüber­hör­bar auch durch mus­li­mi­sche Zuwan­de­rer geäu­ßert. Sie begrün­den ihre Feind­schaft gegen alles Jüdi­sche mit ein­deu­ti­gen Koran­stel­len oder folgen ihren Hass pre­di­gen­den Imamen. Mus­li­mi­sche Schü­ler belei­di­gen ganz offen jüdi­sche Mit­schü­ler, der Aus­druck »Du Jude« ist wieder zu einem gän­gi­gen Schimpf­wort gewor­den. Auf Demons­tra­tio­nen gegen Israel werden Fahnen Isra­els ver­brannt und dazu anti­jü­di­sche Paro­len skan­diert. Es sind poli­ti­sche Gründe, anti­jü­di­sche Paro­len in den Schu­len, auf Demons­tra­tio­nen gegen Israel oder in Inter­net-Videos offi­zi­ell zu »über­hö­ren«. Man weicht von offi­zi­el­ler Seite lieber in eine mög­lichst all­ge­mein gehal­tene Ver­ur­tei­lung anti­jü­di­scher Äuße­run­gen aus. Die Sorge, sich expli­zit mus­lim­kri­tisch zu äußern, ver­hin­dert, ein­deu­tig Stel­lung zu bezie­hen. Schließ­lich ist der Islam eine »befreun­dete« Reli­gion, die mög­lichst nicht als Bünd­nis­part­ner, zum Bei­spiel gegen Huma­nis­ten und Athe­is­ten, ver­är­gert werden soll. 60

Wie sehr die Kirche im Zusam­men­hang mit der Ver­fol­gung der Juden im Drit­ten Reich sich ihrer »hei­li­gen« Schrift zu schä­men scheint, vor allem was das Ver­bren­nen von Men­schen in Zie­gel­öfen betrifft, geht aus einer Fäl­schung des fol­gen­den Bibel­tex­tes hervor. Dieser Text in Samuel 2, Kap. 12, Vers 31 lautet in seiner ursprüng­li­chen, von Luther über­setz­ten Form wie folgt:

»Aber das Volk drin­nen führte er heraus und legte sie unter eiserne Sägen und Zacken und eiserne Keile und ver­brannte sie in Zie­gel­öfen. So tat er allen Städ­ten der Kinder Ammon.«

In der von den deutsch­spra­chi­gen Kir­chen 1980 gemein­sam her­aus­ge­ge­be­nen Ein­heits­über­set­zung lautet diese Stelle jetzt so:

»Auch ihre Ein­woh­ner führte er fort und stellte sie an die Stein­sä­gen, an die eiser­nen Spitz­ha­cken und an die eiser­nen Äxte und ließ sie in den Zie­ge­leien arbei­ten. So machte er es mit allen Städ­ten der Ammoniter.«

Man sieht, das Fäl­schen der Bibel hat bis heute kein Ende gefun­den. 61 Übri­gens auch Jesus spricht in Mat­thäus, Kapi­tel 13, in den Versen 42 und 50 von einem »Ofen«, in den die Ungläu­bi­gen gewor­fen werden. Das über viele Jahr­hun­derte prak­ti­zierte Ver­bren­nen von Anders- und Nicht­gläu­bi­gen durch die Kirche hat also eine Recht­fer­ti­gung aus höchs­tem Munde.

3. Die Bot­schaft hör’ ich wohl …und das soll ich glauben?

Die Hölle – ein wei­te­rer wich­ti­ger Begriff im Glau­bens­be­kennt­nis – spielt im welt­wei­ten Chris­ten­tum nach wie vor eine zen­trale Rolle und ist zugleich die grau­samste und nie­der­träch­tigste gedank­li­che Kon­struk­tion, die Chris­ten­tum bezie­hungs­weise Kirche sich aus­ge­dacht oder von ande­ren Reli­gio­nen über­nom­men haben. Über eine Zeit von fast zwei­tau­send (!) Jahren wurde den Men­schen, die im Herr­schafts­be­reich der Kirche leben muss­ten, mit ewig andau­ern­den ent­setz­lichs­ten Qualen für den Fall ungläu­bi­gen Ver­hal­tens gedroht. Wie steht es eigent­lich um die Über­zeu­gungs­kraft einer Bot­schaft, die sich solch bru­ta­ler Ein­schüch­te­run­gen bedie­nen muss? Wie ver­ein­bart sich das eigent­lich mit der angeb­lich unend­li­chen Barm­her­zig­keit und Liebe Gottes zu den Menschen?

Jesus selbst, auf den diese über alle Maßen erbar­mungs­lose Straf­an­dro­hung zurück­geht, kann nicht beson­ders über­zeugt von der Wirk­sam­keit seines Pre­di­gens und Han­delns gewe­sen sein. Denn er wird nicht müde und findet viele Gele­gen­hei­ten, auf die Kon­se­quen­zen der Ableh­nung seiner Bot­schaft hin­zu­wei­sen, und schil­dert uns die dann zu erwar­tende Hölle als Ort ewig bren­nen­den Feuers. Wie ver­ein­bart sich die immer wieder beschwo­rene »unend­li­che Liebe und Barm­her­zig­keit Gottes« und die auch von Jesus gefor­derte Nächs­ten- und sogar Fein­des­liebe mit sol­chen ewig (!) andau­ern­den fürch­ter­lichs­ten Schmerz­zu­fü­gun­gen, die jene zu erwar­ten haben, die ledig­lich seine himm­li­sche Bot­schaft nicht anneh­men mögen? Jede Insti­tu­tion, die heute mit sol­chen Straf­maß­nah­men, gar nie enden­den, drohte, um ein bestimm­tes Ver­hal­ten zu erzwin­gen, würde geäch­tet werden. Man würde das zu Recht als Andro­hung von Folter bezeich­nen. Maß­stäbe ele­men­tars­ter Formen von Huma­ni­tät gelten aber offen­bar nicht für die bibli­sche Lehre.

Angeb­lich erwar­tet Gott das frei­wil­lige Ja zu ihm. Wie kann aber von einer freien Ent­schei­dung die Rede sein, wenn die Alter­na­ti­ven so extrem ungleich­wer­tig sind. Wie kann Gott uns Wil­lens­frei­heit geben und gleich­zei­tig dro­hend ver­lan­gen, dass wir uns für ihn ent­schei­den? Wie kann man von einer frei­wil­li­gen und über­zeug­ten Hin­wen­dung zum Glau­ben spre­chen, wenn als Alter­na­tive nur die denk­bar größte per­sön­li­che Kata­stro­phe droht!

Dass das Feuer in der Hölle nicht etwa nur sym­bo­lisch gemeint war, son­dern als tat­säch­lich exis­tie­rende und schmerz­lichste Höl­len­glut zu ver­ste­hen ist, geht aus vielen kirch­li­chen Lehr­bü­chern und theo­lo­gi­schen Lexika hervor. Auf unzäh­li­gen bild­li­chen Dar­stel­lun­gen mit christ­lich-reli­giö­sen Moti­ven und zum Bei­spiel auf vielen Decken­ma­le­reien in Kir­chen wird uns das höl­li­sche Inferno dras­tisch vor Augen geführt. Die Kir­chen­ge­schichte kennt nicht wenige Gläu­bige, die die Hölle als Gottes unwür­dig, als Schand­mal der christ­li­chen Lehre ansa­hen und ihre Exis­tenz daher leug­ne­ten. Sie muss­ten für ihre ket­ze­ri­schen Ansich­ten prompt schon mal mit einem irdi­schen Höl­len­feuer büßen.

Nach Mei­nung des Kir­chen­leh­rers Augus­ti­nus beka­men unge­taufte Kinder das Höl­len­feuer zu spüren, »wenn auch in weni­ger schmerz­haf­ter Weise als alle, die per­sön­li­che Schuld auf sich gela­den haben«. Später wurde daraus eine Vor­hölle, wo ihnen ein von Qualen freier Auf­ent­halts­ort zuge­wie­sen würde. Päpste und Kir­chen­leh­rer bauten im Laufe der Zeit die »Theo­rie« der Vor­hölle, des Fege­feu­ers, einer Art läu­tern­der und der Über­prü­fung die­nen­der Zwi­schen­sta­tion, und der eigent­li­chen Hölle immer weiter aus und legten selbst­herr­lich fest, wer sicher, wer viel­leicht, aus wel­chen Grün­den und wie lange in das Fege­feuer oder für immer in die Hölle kommt und dort mit wel­cher Inten­si­tät gequält wird. 72

Eine solche aus­ge­klü­gelte Form von Sadis­mus kann eigent­lich nur kran­ken oder durch eine Irr­lehre defor­mier­ten Hirnen ent­sprun­gen sein. Dieses Ein­schüch­tern und Drohen mit ent­setz­lichs­ten Kon­se­quen­zen für das Abwei­chen vom Glau­bens­pfad führte dazu – wie die Theo­lo­gin Uta Ranke-Hei­ne­mann sar­kas­tisch ver­merkt – dass »der Christ sich mehr vor der Hölle fürch­tet, als er sich auf den Himmel freut«. 73 Nach neu­es­ter »theo­lo­gi­scher Erkennt­nis«, durch eine vati­ka­ni­sche Kom­mis­sion ermit­telt und im Jahr 2007 ver­kün­det, gibt es nun auf einmal keine Vor­hölle mehr! Ist diesen selbst­herr­li­chen und welt­frem­den alten Herren im Vati­kan wirk­lich nicht bewusst, welche Anma­ßung, Dreis­tig­keit und boden­lose Ein­falt in ihren phan­ta­sier­ten Fest­le­gun­gen über Vor­hölle, Hölle und Fege­feuer stecken?

Somit hat Jesus der Mensch­heit über seine Ver­kün­der nicht nur die Bot­schaft der Liebe und des Frie­dens gebracht, son­dern auch die schlimmste aller denk­ba­ren Dro­hun­gen, denen die Mensch­heit je aus­ge­setzt war. Aber­mil­lio­nen von Men­schen litten und leiden bis heute unter dieser unsäg­li­chen gött­li­chen War­nung vor ewiger Ver­gel­tung, ewiger Folter. Gemes­sen an dem Elend, das diese Dro­hung in den Psy­chen nicht mehr zu zäh­len­der Men­schen aus­ge­löst hat, ver­blasst die – selbst von Kri­ti­kern der christ­li­chen Lehre – Jesus immer noch zuge­schrie­bene ein­zig­ar­tige und vor­bild­hafte mora­li­sche Rolle. Zudem muss­ten unge­zählte Men­schen leben­di­gen Leibes den Feu­er­tod erlei­den, weil man sei­ner­zeit bibel­treu glaubte, nur auf diese Weise ihre Seelen mög­li­cher­weise vor ewiger Höl­len­pein retten zu können. So betrach­tet ist die Person Jesus (bzw. das ihm zuge­spro­chene Wort) – man wagt es kaum aus­zu­spre­chen, aber die Logik erzwingt es – Initia­tor für das größte psy­chi­sche Unheil, das der Mensch­heit – zumin­dest im Ein­zugs­be­reich des christ­li­chen Glau­bens – je zuge­fügt wurde. Selbst wenn man ein­räumt, dass ebenso viele, viel­leicht sogar noch mehr Men­schen Trost und Hilfe in dieser Lehre fanden – welch unge­heu­rer Preis, mit wie­viel Angst und psy­chi­scher Not musste dafür bezahlt werden!

Eine Reli­gion, die über Jahr­tau­sende und in vielen Län­dern dieser Erde bis heute einen sol­chen Bestim­mungs­ort für Men­schen vor­sieht, die sich nicht ihren zusam­men­phan­ta­sier­ten Vor­stel­lun­gen fügen, ein Glau­bens­sys­tem, das ewige, grau­en­haf­teste Fol­te­run­gen selbst für nur ein­ma­lige Ver­feh­lun­gen in einem kurzen Leben androht, eine Kirche, die also Folter (!) als selbst­ver­ständ­li­che und von Gott ein­ge­setzte Bestra­fung für Glau­ben­s­un­ge­hor­sam betrach­tet und die über Wort und Bild schon die Psy­chen der noch Leben­den mit Hor­ror­vi­sio­nen quält, ver­dient nur ein Urteil: men­schen­un­wür­dig und menschenverachtend!

Nun kommt das Über­ra­schende: Der der­zeit gül­tige katho­li­sche Kate­chis­mus kennt auf einmal die Hölle als Ort ewig quä­len­den Feuers nicht mehr! Kein Wort über diese Jahr­tau­sende alte, fins­terste Andro­hung, die über unzäh­lige Pre­dig­ten, Schrif­ten und Bilder in den Köpfen wehr­lo­ser Men­schen ver­an­kert wurde und stets genutzt werden konnte, Schafe samt auf­mu­cken­der Böcke bei der Stange zu halten. Welche Erkennt­nisse sind denn in den letz­ten zwan­zig, drei­ßig Jahren gewon­nen worden, dass es nun plötz­lich abso­lut ver­harm­lo­send heißt, die Hölle sei ein »Zustand der end­gül­ti­gen Selbst­aus­schlie­ßung aus der Gemein­schaft mit Gott und den Seli­gen«. An ande­rer Stelle heißt es: »Die schlimmste Pein der Hölle besteht in der ewigen Tren­nung von Gott …«. 74 Kein Wort mehr von jenen in der Bibel und später von der Kirche dras­tisch aus­ge­mal­ten ewigen und ent­setz­lichs­ten Feuerqualen.

Alt­bi­schof Huber meinte in einer Talk­show wört­lich: »Die Hölle gibt es. Aber sie ist leer.« Da frage ich zurück: Hat Gott es sich anders über­legt oder kommt in diesem »Ent­ge­gen­kom­men« nur zum Vor­schein, dass das alles theo­lo­gi­sche Kon­struk­tion war, um Men­schen durch Angst zu gehor­sa­men und demuts­vol­len Gläu­bi­gen zu machen?

Dieses kom­men­tar­lose, gera­dezu skru­pel­lose Fal­len­las­sen einer über zwei Jahr­tau­sende geüb­ten Erpres­sungs­pra­xis ist von größ­ter Unred­lich­keit und Schä­big­keit, vor allem, wenn man sich bewusst­macht, wel­ches uner­mess­li­che psy­chi­sche und phy­si­sche Unheil in und an Mil­lio­nen Men­schen über die Jahr­hun­derte ange­rich­tet wurde, und dass sich unter ande­rem – oder vor allem? – auf Grund dieser von den Men­schen bit­ter­ernst genom­me­nen Andro­hung die zah­len­mä­ßige Größe der Kirche erklärt. Es gibt sei­tens der Kir­chen kein Wort des Bedau­erns, keine erklä­rende Entschuldigung.

Dieser bemer­kens­werte – aus der Sicht eines Chris­ten eigent­lich erfreu­li­che – Sin­nes­wan­del ist nun nicht etwa auf Mit­leid mit den Ungläu­bi­gen oder auf die Wie­der­ent­de­ckung des in der Berg­pre­digt gefor­der­ten barm­her­zi­gen Mit­ein­an­der­um­ge­hens zurück­zu­füh­ren. Diese Umin­ter­pre­ta­tion beruht allein auf der Ein­sicht, dass man sich mit dieser mit­tel­al­ter­li­chen Droh­ku­lisse heute nur noch lächer­lich macht. Still­schwei­gend wird also ein mäch­ti­ges und bewähr­tes Erpres­sungs­mit­tel gestri­chen. Man sieht, die kirch­li­chen Macht­in­stru­mente grei­fen auf­grund der wach­sen­den Auf­ge­klärt­heit der Men­schen immer weni­ger. Und auch was vom dog­ma­ti­schen Gebälk noch ste­hen­ge­blie­ben ist, das ächzt und kracht in allen Fugen. …